...das Geschäftsmodell ist unkompliziert und einfach:
Restaurants, die keinen eigenen Lieferservice haben, können mithilfe einer App oder telefonisch dennoch diese Option anbieten und ihre Umsätze aufbessern. Hungrige StadtbewohnerInnen erhalten rasch und unkompliziert ihr Essen nach Hause oder ins Büro geliefert. Für diesen Vermittlungsservice werden oft üppige Provisionen auf den gesamten Bestellwert fällig.
So gehen oft 30 Prozent des Bestellwertes direkt an die Plattform. Allein in Österreich lag 2019 der Umsatz bei Lieferando bei 19,8 Millionen Euro und stieg gegenüber dem Vorjahr 2018 um +33,8 Prozent.
Diese sog. Plattformwirtschaft wird aufgrund des „The Winner Takes It All“-Prinzips von wenigen, immer mächtigeren digitalen Plattformunternehmen kontrolliert. Im digitalen Zeitalter blieben oft nur ganz wenige mächtige AnbieterInnen, die quasi den gesamten Markt beherrschen und die Gewinne abschöpfen. Das Prinzip der Netzwerkeffekte ist auch im Falle der digitalen Essensplattformen nicht anders.
Zuerst waren es viele AnbieterInnen, die nach und nach aufgekauft wurden, und der Markt konzentrierte sich auf wenige Big Player.
Die Folgen: Fahrradkuriere - Stressig, prekär und systemrelevant
Sie fahren gegen die Zeit. Es ist so auf den Straßen schon viel gefährlicher, als man denkt. Der Aufruf während des Shutdowns, die eigene Wohnung nicht zu verlassen, die Schließung von Restaurants und die Verlagerung vieler Beschäftigter ins Homeoffice führten in den letzten Monaten zu einem Run auf die Essenzustellungen. Jedoch stellte sich nie die Frage, ob die Zustellung von Essen auf Rädern eine relevante Schlüsselrolle einnimmt – denn offenbar hat sie diese. Neben dem alltäglich üblichen Zeitstress, der körperlichen Belastung, Verletzungsgefahr im Verkehr und niedriger Entlohnung ist seit Mitte März bei den Plattformbeschäftigten auch die Ansteckungsgefahr mit COVID-19 hinzugekommen. Genauere Einblicke auf die prekäre Situation gibt ein Fahrradkurier aus Wien.
Quelle: Selfie eines Fahrradkuriers aus Wien
„It’s a job, not a hobby“,
so ein Fahrradkurier aus Wien
Keine Schutzmasken, keine Desinfektionsmittel und kein Trinkgeld
„It’s a job, not a hobby.“ Der in Wien lebende US-Amerikaner „Mark“ (Name geändert) arbeitet seit über einem Jahr hauptberuflich als Fahrradbote für den Essenszustelldienst Mjam in Wien. Er ist wie 500 seiner KollegInnen als freier Dienstnehmer unter Vertrag.
Die Entlohnung setzt sich aus einem Grundtarif von 8 Euro brutto pro Stunde und Überzahlungen ab einer bestimmten Anzahl von Bestellungen pro geleisteter Arbeitsstunde zusammen. Er hat keinen Anspruch auf bezahlten Urlaub, Krankenstand oder Urlaubs- und Weihnachtsgeld.
Mark beschreibt die ersten Wochen des Lockdowns als chaotisch und schwierig. Es war nicht klar, welche Restaurants geöffnet haben, oft gab es Leerfahrten und die Wartezeiten waren um einiges länger als üblich. Auch das Prozedere der „kontaktlosen Übergabe“, das von der Plattform eingeführt wurde, erschwerte den Ablauf. Vor allem aber verringerte die kontaktlose Übergabe einen essenziellen Teil des Einkommens: das Trinkgeld. Weil nach gelieferter Bestellung bezahlt wird, ist der Fahrradbote davon abhängig, dass die Abläufe gut getaktet sind, und auch der Kundenkontakt ist ein fixer Bestandteil der Arbeit. Marks Angaben nach gab es bis auf wöchentliche Info-E-Mails – die zur Vorsicht mahnten – keine Unterstützung seitens des Unternehmens.
Schutzausrüstung wie Masken und Desinfektionsmittel wurden von den FahrerInnen selbst organisiert. Immer öfter kam es vor, dass den EssenszustellerInnen selbst die Verwendung der WC-Anlagen in den Restaurants nicht erlaubt wurde.
Bessere Arbeitsbedingungen für Plattformbeschäftigte notwendig
Jahrelang waren klein- und mittelständische Unternehmen in der Fahrradbotenbranche tonangebend. Im Laufe der letzten Jahre haben sich internationale Konzerne über den Markt der Essenszustellung ausgebreitet und die Branche durchgewirbelt.
Seit 2020 gibt es zwar einen Kollektivvertrag für FahrradbotInnen, doch aufgrund von Diversitäten an Anstellungs- bzw. Dienstverhältnissen ist die Branche weiterhin von Prekariat geprägt. Ein guter Teil der Plattformbeschäftigten sind als freie DienstnehmerInnen oder als Ein-Personen-Unternehmen für einen Auftraggeber tätig. Sie fallen oft durch das soziale Netz, das gerade jetzt gebraucht wird.
In der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass in vielen Berufen, die als systemrelevant eingestuft werden, äußerst prekäre Umstände herrschen. Es ist nicht nachvollziehbar, weswegen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen zwar als HeldInnen des Alltags beklatscht werden, ihnen aber der Zugang zum Sozialsystem und Rechte, die für echte ArbeitnehmerInnen selbstverständlich sind, verweigert werden.
Lücken in der Gesetzgebung und in der Kontrolle werden seit jeher von Unternehmen genutzt, um Kosten zu sparen. Argumentiert wird mit dem Preisdruck, der ein Anstellungsverhältnis nicht deckt. Außerdem wären KundInnen nicht bereit, den reellen Preis für die Dienstleistung zu bezahlen. Kostenwahrheit für Dienstleistungen sind ein Baustein der Loslösung vom Prekariat, aber auch eine starke Vertretung von atypisch Beschäftigten, die ohne Lobby ihr Auskommen gegenüber übermächtigen Konzernen und etablierten Unternehmen nur schwer durchsetzen können.
Der Nachweis, einem Arbeitsverhältnis und nicht einer Selbstständigkeit oder einem freien Dienstvertrag zu unterliegen, obliegt den betroffenen ArbeitnehmerInnen und ist unweigerlich mit Arbeitsplatzverlust verbunden. Dieses Machtungleichgewicht muss durchbrochen und den atypisch Beschäftigten zu einer starken Lobby verholfen werden, um prekäre Arbeitsverhältnisse zurückzudrängen und allen ArbeitnehmerInnen dieselben Rechte und Absicherung gewährleisten zu können, und Plattformbetreiber müssen ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Dieser Schritt wurde bereits in Kalifornien mit der Assembly Bill No. 5 umgesetzt, indem Gig-Worker von der Plattform angestellt werden müssen.
Denn auch bei Arbeit 4.0 gilt das Zitat von Bertolt Brecht: „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
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